Literaturnobelpreis 1978: Isaac Bashevis Singer

Literaturnobelpreis 1978: Isaac Bashevis Singer
Literaturnobelpreis 1978: Isaac Bashevis Singer
 
Der Amerikaner wurde für seine »Erzählkunst, die mit ihren Wurzeln in der polnisch-jüdischen Kulturtradition universale Bedingungen menschlicher Existenz lebendig werden lässt«, ausgezeichnet.
 
 
Isaac Bashevis Singer, * Radzymin (bei Warschau) 14. 7. 1904, ✝ 24. 7. 1991 Miami (Florida); ab 1923 beim jiddischen Literaturmagazin »Literarische Blätter« tätig, 1927 Veröffentlichung der ersten Arbeit, 1935 Auswanderung nach Amerika und Tätigkeit für den »Jewish Daily Forward«, ab 1943 US-Bürger, 1965 Auszeichnung mit dem Preis »French Foreign Bool«.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Jiddisch war die Umgangs- und Literatursprache der aschkenasischen, das heißt der zentral- und osteuropäischen Juden und lange infolge von Emigration und Vertreibung weltweit verbreitet. Heute führt es nur noch ein Schattendasein. Geschrieben in hebräischer Schrift, entstammt diese Sprache vor allem zwei Wurzeln: dem Hebräischen und einer frühen Stufe des Deutschen. Jiddisch ist die Sprache des Isaac Bashevis Singer, der als ihr letzter großer Schriftsteller gilt.
 
Als Sohn eines Rabbiners im Warschauer Judenviertel aufgewachsen, erfuhr er eine Erziehung in der Tradition des Chassidismus, der religiösen, die Gefühle und Einbildungskraft betonenden jüdischen Erneuerungsbewegung des 18. Jahrhunderts und wurde nach Familientradition selbst zum Rabbiner bestimmt. Aber statt am Rabbinerseminar teilzunehmen, studierte er an der Warschauer Universität und wuchs so in ein aufgeklärtes Milieu hinein. Die biografischen Erfahrungen prägen sein literarisches Werk: Es mischt sich eine fantastische, groteske, surrealistische Welt, die, aus der chassidischen Tradition schöpfend, ein mittelalterlich anmutendes Panorama von Dämonen, Kobolden und Geistern präsentiert, mit einer realistischen Darstellungsweise in den Traditionen der Aufklärung und des Bildungsromans.
 
 Von Warschau nach New York
 
Seinen ersten Roman »Satan in Goraj« veröffentlichte Singer 1933 in Polen. Er erschien in Fortsetzungen in der Zeitschrift »Globus« und stellt die mystische Welt und das ekstatische Verhalten einer jüdischen Gemeinde im Jahr 1648 dar, die erlittene Massaker umdeutet als Beginn des messianischen Zeitalters. Bald danach, 1935, folgte Singer seinem Bruder Joshua nach New York, wohl auch wegen des wachsenden Antisemitismus, vor allem aber aufgrund mangelnder Zukunftsperspektiven in Polen. Die jüdischen Gemeinden Brooklyns, auf Coney Island und am East Broadway wurden seine zweite Heimat. Hier lebte er bis zu seinem Tod.
 
Seinen Unterhalt verdiente er sich zunächst mühsam als Mitarbeiter des »Forwerts«, einer jiddischen Tageszeitung. Einem größeren Leserkreis wurde er erst durch englische Übersetzungen bekannt: Die Buchausgabe seines ersten im Exil entstandenen Romans »Die Familie Moschkat« (ab 1945 in Fortsetzungen im »Forwerts«), einer in Stil und Inhalt realistisch gestalteten Geschichte mehrerer jüdischer Familien vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis 1939, die exemplarisch für den Verfall des orthodoxen polnischen Judentums stehen, erschien 1950 in Jiddisch und Englisch. Der Durchbruch gelang aber erst mit der Übersetzung seiner Kurzgeschichte »Gimpel der Narr« durch Saul Bellow (Nobelpreis 1976) — einem zweideutigen Lob der schlichten Frömmigkeit als der besten Verteidigung gegen die Schlechtigkeit der Welt.
 
 Jüdisches Leben in Polen und Amerika
 
Die Erzählungen Singers sind zunächst in der Geschichte des polnischen Judentums angesiedelt. Immer klingt dabei das Grundthema des sozialen, religiösen und kulturellen Niedergangs mit, der nicht nur durch Verfolgungen verursacht ist, sondern auch durch Industrialisierung, Aufklärung und Assimilation; ein Prozess, dessen Endpunkt die Vernichtung des europäischen Judentums durch die Nationalsozialisten war. Singers 1962 erschienene Erzählung »Jakob der Knecht« spielt wie »Satan in Goraj« im 17. Jahrhundert und hält den Leser mit einer verbotenen Liebe zwischen einem Juden und einer Christin in Atem. Der misslungene Aufstand des polnischen Adels gegen das Zarenreich 1863 ist der Hintergrund für »Der Zauberer von Lublin« (1960), die Geschichte des kriminellen Akrobaten Jascha Masur, der, nachdem er die »Hand Gottes« erblickt hat, sich aus der Welt zurückzieht und als Wundertäter angebetet wird. Singer veröffentlichte 1980 »Die Gefilde des Himmels«, die Geschichte von Israel Baalschem Tow, dem Begründer des Chassidismus. Er prägte das osteuropäische Judentum in dem Maß wie danach nur noch die Haskalah, die jüdische Aufklärung.
 
Auch in seinen späteren amerikanischen Geschichten, die vom Emigrantenschicksal in New York erzählen, spielt die osteuropäisch-jüdische Kulturtradition eine große Rolle. Hier sind ebenfalls die Protagonisten Narren, schelmenhafte Figuren, Außenseiter — oft Holocaust-Überlebende, die — traumatisiert, leidend und ausgestoßen — im amerikanischen Exil ihre Kultur bewahren wollen.
 
 Ein Meister der Kurzgeschichte
 
Als Singer den Nobelpreis zugesprochen bekam, bedauerte er, dass »größere Schriftsteller« als er, etwa Tolstoi, den Preis nicht erhalten hätten: Er selbst sei »nicht mehr als ein Geschichtenerzähler«. Aber auch nicht weniger: Singer ist ein Meister der Kurzgeschichte. Mehr als 100 sind in Sammlungen veröffentlicht worden, und allein im Archiv des »Forwerts« liegen hunderte Erzählungen. Seine vielleicht beste, jedenfalls seine berühmteste, ist die bereits genannte »Gimpel der Narr«. Wie diese stellen auch »Der alte Mann« und »Der kleine Schuster« — beide in der Sammlung »Gimpel der Narr« — an der Figur des »kleinen menschele« dar, wie einfache Frömmigkeit über die Bosheit der Welt siegt. Häufige Themen sind auch universale anthropologische Grundfragen wie Schuld und Untergang — so etwa in »Der Gentleman aus Krakau« (in »Gimpel der Narr«) und in »Die Zerstörung von Kreshev« (in »Der Spinoza von der Marktstraße«; 1961) — und Heil und Rettung — etwa in »Kurzer Freitag« (1964).
 
Singer hat den Nobelpreis nicht ausdrücklich für sein jiddischsprachiges Literaturschaffen erhalten, sondern für die in der »polnisch-jüdischen Tradition« verwurzelte »leidenschaftliche Erzählkunst«. Er selbst hat in der Auszeichnung seines Werks zugleich eine Ehrung der jiddischen Sprache und Kultur gesehen. Während er in seiner Dankrede der Überzeugung Ausdruck gab, dass das Jiddische als eine reiche, erfahrungsgesättigte, humorvolle, schlichte Sprache, als »Ausdrucksweise der geängstigten und hoffnungsvollen Menschheit« »sein letztes Wort noch nicht gesprochen« habe, befürchtete er doch genau dies und hielt, besorgt, dass diese Sprache nie wieder in der Schwedischen Akademie erklingen würde, den ersten Teil seiner Rede auf Jiddisch, bevor er ins Englische, seine »zweite Muttersprache« überwechselte.
 
W. Vollmer

Universal-Lexikon. 2012.

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